Auf der Suche nach Menschlichkeit in herausfordernden Zeiten
"Kritik, Urteile, und Diagnosen sind der tragische Ausdruck von unerfüllten Bedürfnissen"
Marshall B. Rosenberg
Ich bin immer wieder unruhig, wenn ich an bestimmte Dinge denke, die gerade hier und in der Welt geschehen. Manchmal bin ich sogar frustriert und traurig, weil es mir so sehr am Herzen liegt, dass wir Menschen uns gegenseitig zuhören ohne den anderen zu verurteilen.
Mir passiert es auch weiterhin, dass ich beurteile und bewerte, obwohl ich mich so viel mit der Gewaltfreien Kommunikation beschäftige. Es sind alte Denk- und Verhaltensmuster und es braucht Zeit und Geduld sie zu durchbrechen. Manchmal kann es auch nützlich sein zu bewerten, weil es uns Orientierung gibt und z.B. auch Klarheit, was wir wollen oder nicht wollen.
"Wir erfüllen uns zu jeder Zeit Bedürfnisse.", ganz gleich was wir tun oder nicht tun. Bedürfnisse haben alle Menschen auf der Welt. Bedürfnisse sind universell, abstrakt und unabhängig von Ort, Zeit, Aktivität, Person oder Objekt.
Was passiert häufig in Konflikten:
Wir streiten uns scheinbar auf der Bedürfnisebene anstatt uns bewusst darauf zu konzentrieren, dass die Strategie sehr wahrscheinlich das "Problem" ist. "Ich will jetzt aber hier auf dem Sofa liegen und nichts hören." vs. "Ich will jetzt laut Musik hören."
Die Chance im Konflikt:
Wenn wir wissen, um welches Bedürfnis es jedem geht, dann können wir Strategie finden, die beide zufriedenstellen.
Strategien (= Handlungen zur Erfüllung von Bedürfnisse) sind vielfältig, individuell unterschiedlich und können wir verändern/anpassen, um uns das Bedürfnis zu erfüllen.
Was passiert stattdessen häufig:
Schon wieder ein Streit. Wieder sind wir im Dilemma. Anstatt uns miteinander zu verbinden, indem wir uns gegenseitig zuhören, um was es dem anderen geht, setzt sich der Streit und Ärger fort, weil
"Jeder in einem Streit gehört und ernst genommen werden möchte."
Wir erleben Trennung statt Verbindung.
Bedürfnisse sind immer in Ordnung. Egal welches Bedürfnis jemand hat. Auch wenn es gerade nicht zu meinem Bedürfnis passt.
Über was wir reden & diskutieren können, sind die Strategien,
mit denen ich mir ein Bedürfnis erfülle, Es gibt so viele verschiedene Möglichkeiten, mit denen wir uns Bedürfnisse erfüllen können.
Beispiel:
Das Bedürfnis nach Erholung kann ich mir erfüllen, in dem ich:
* auf dem Sofa liege
* lese
* spazieren gehe
* wandern gehe
* mich beim Sport auspowere
* ein Fachbuch lese
* meditiere
* Yoga mache
* mich hinsetze und einen leckeren Tee trinke
* mit einer Freundin telefoniere
* etwas Neues lerne
* laut Musik höre
* tanze
* in die Sauna gehe
* u.v.m.
All das sind Beispiele von Strategien, die ich von mir selbst kenne oder die mir andere von sich erzählt haben, um sich Erholung zu erfüllen.
Zurück zu Konflikten, Auseinandersetzungen usw.:
Schuld-und-Scham-Spirale:
Letztens waren eine Kollegin und ich im Nachgespräch mit einer JaS Kraft und einer Rektorin. Die JaS Kraft hat uns von folgenden Elterngesprächen erzählt:
Es gibt immer wieder Streitereien in der Schule. Kinder schubsen sich auch mal oder einer tut dem anderen weh usw.
Eltern rufen an und sagen, dass ihrem Kind das und das passiert ist und die Schule etwas tun müsse. Sie hören dann von der JaS Kraft, dass sie sich darum kümmert, sie beide Kinder zu einem Gespräch bittet, erst einzeln dann gemeinsam.
Für mich erschütternd, was Eltern dann - anscheinend ist das keine Ausnahme - sagen:
"Waaas Sie reden AUCH mit dem Täter?? Mit dem muss nicht geredet werden. Der gehört bestraft!" Puuh, als meine Kollegin und ich das hörten, waren wir zutiefst betroffen. Vor allem auch deshalb, weil es nicht das erste Mal war, dass wir das mitbekommen.
Es ist für mich bitter, was da passiert, weil - aus meiner Sicht - das eine Kind (der "Täter") entmenschlicht, vielleicht sogar entwürdigt und nicht gesehen wird. Die Schuldspirale wird losgetreten. Das Schamgefühl kommt meist gleich mit dazu, weil Kinder in jungen Jahren schon das Prinzip:
"Du bist Schuld - Schäm dich!" kennen.
Ein anderer Weg, mit dem ich persönlich im Gleichklang bin und mich wohl fühle:
Was steckt hinter einem Verhalten (einer Strategie), dass nicht zum Wohle der Gemeinschaft beiträgt?
Dazu ein Beispiel aus meiner Arbeit an Schulen:
Folgende Situation:
Ich gehe nach der Pause hoch zu dem Klassenzimmer, in dem ich den nächsten Kurs halte.
Ich sehe, wie ein Junge ein Mädchen von sich wegschubst. Das Mädchen fällt hin, steht auf und geht weinend weg. Es sieht mich und kommt zu mir: "Der hat mich geschubst. Der ist so gemein."
Ich: "Ich habe gesehen, wie du geschubst wurdest und hingefallen bist. Bist du erschrocken?"
Das Mädchen: "Ja." Ich: "Ja, das verstehe ich. Komm lass uns mal zu dem Jungen hingehen und nachfragen, was er für einen Grund hatte." Wir gehen zu dem Jungen. Ich: "Ich habe gesehen, wie du das Mädchen geschubst hast, sie hingefallen ist und geweint hat. Bist du erschrocken, als du das gesehen hast?". Der Junge: "Ja." Ich: "Ja, das kann ich mir vorstellen. Magst du mal erzählen, was davor passiert ist?". Der Junge: "Ja, sie hat mich immer wieder angesprochen. Ich habe ihr dreimal gesagt, sie soll mich in Ruhe lassen. Dann hab ich sie geschubst." Ich: "Okay, du wolltest deine Ruhe haben und dass sie dich ernst nimmt, oder?" der Junge: "Ja.", Ich: "Und als dein Reden nicht funktioniert hat, warst du frustriert, vielleicht hilflos und du hattest keine andere Idee, als zu schubsen. Stimmt das so?" Der Junge senkt den Kopf und sagt: "Ja." Ich: "Hättest du gerne eine andere Idee, was du tun kannst, wenn das wieder passiert?". Der Junge schaut mich an: "Ja.". Ich: "Okay, hast du vielleicht selbst schon eine andere Idee? Was könntest du tun?" Der Junge schweigt kurz und sagt: "Ich könnte mich umdrehen und einfach weggehen." Er strahlt. Ich: "Ja, das ist doch eine tolle Idee." Ich zu dem Mädchen: "Wie geht es dir jetzt, wo du das alles gehört hast und gehört hast, was die Gründe waren, dass er geschubst hat?" Das Mädchen hatte die ganze Zeit zugehört und auch schon lange mit dem Weinen aufgehört. Es sagt: "Mir geht es besser und mir tut es leid, dass ich nicht aufgehört habe zu reden, obwohl er öfter gesagt hat, ich solle aufhören." Beide lächeln sich an. Der Konflikt ist gelöst.
Diese Situation hat mich sehr berührt und friedlich gestimmt, weil ich da, wie auch in vielen weiteren Situationen erlebe, wie Konflikte auch gut begleitet werden können. Vorallendingen, wie schnell das bei Kindern klappt, dass sie aus dieser Schuld-Scham-Spirale aussteigen, menschlich sind, schnell in Verbindung und sogar Verständnis kommen. Das ist für mich einfach magisch und wertvoll.
Gewaltfreie Kommunikation ist für mich hilfreich, weil es nicht nur ein "Werkzeug" ist,
sondern vor allem eine Haltung:
Jeder Mensch hat einen inneren menschlichen Kern, der zum Wohlergehen anderer Menschen beitragen möchte. Das missglückt teilweise, weil die Strategie nicht passt. Gleichzeitig finden wir Zugang über die Bedürfnisse und können dem Menschen, ob Kind oder Erwachsener dabei helfen eine neue, für die Gemeinschaft stimmige Strategie zu finden. Wir sind alle miteinander verbunden und haben in unserer Tiefe ein mitfühlendes, einfühlsames Wesen. So sind wir auf die Welt gekommen. Das ist meine Haltung.
Gleichzeitig gibt es vor allem im Moment einige Menschen, die die Verbindung zu sich und ihrem menschlichen, einfühlsamen Wesen verloren haben. So wirkt es auf mich. Sie gehen Wege, die zu sehen mich innerlich schmerzen und z.T. erschüttern, weil ich denke, dass wir es anders können, so dass wir anstatt in Trennung, in die Verbindung kommen. In unsere menschliche Verbundenheit.
Wenn ich an Menschen denke, die die AFD wählen wollen, habe ich den Eindruck, dass diese Menschen das nicht mal laut aussprechen dürfen (in manchen Teilen Deutschlands).
Menschen, die zu uns geflüchtet sind, hier arbeiten und integriert sind, trauen sich nicht mehr zu sagen, woher sie kommen.
Menschen trauen sich nicht mehr zu sagen, welcher Religion sie angehören.
Menschen trauen sich in manchen Teilen Deutschlands nicht zu sagen, dass sie eine andere Partei, als die AFD wählen werden.
Wir schaffen gerade ganz viel Trennung, obwohl uns (trotzdem) so viel verbindet.
Ich bin neugierig was die Gründe sind, dass man die AFD wählt ohne, dass ich sie selbst jemals wählen werde. Welche unerfüllten Bedürfnisse stecken dahinter? Denn AFD zu wählen ist - mit der Gewaltfreien Kommunikation betrachtet - eine Strategie, um sich Bedürfnisse zu erfüllen.
Das bedeutet, dass sie eine andere Strategie wählen könnten, um sich ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Ich spreche hier sicher nicht von der Parteispitze oder den sehr integrierten Politikern in der Partei und gleichzeitig ist es wie in allen Gruppen: es gibt die Anführer (Vorangeher), Mitläufer, Beobachter, stille Zustimmer und die Verängstigten, die sich lieber denen zuwenden, um keine Angriffsfläche zu bieten. Bis auf die erste Gruppe innerhalb der Gruppendynamik können wir -meiner Meinung nach - alle erreichen. Denen könnten wir zuhören und vielleicht gemeinsam andere Strategie finden, als die AFD zu wählen oder eine andere Strategie wählen, die meiner Meinung nach wohlwollender, menschlicher verbindender ist, als Faschismus, Rassismus, jegliche Diskriminierung zu unterstützen.
Nur: Das Zuhören machen gefühlt noch viel zu wenige. Oft hören wir uns wieder mal nicht zu. Wir verurteilen, bewerten, beschimpfen, grenzen aus usw. Die einen sagen, die anderen denken falsch, die sagen wiederum, die andern denken falsch. Jeder denkt falsch. Jeder kennt DIE Wahrheit. Wir trennen uns voneinander anstatt miteinander zu reden.
Es macht mich wirklich traurig und ich bin auch besorgt, weil das was gerade passiert, egal ob hier, in Amerika, Afghanistan oder anderen Ländern so gar nicht meiner Natur entspricht. Ich spüre Hilflosigkeit und denke mir sehr häufig: "Was leben wir den Kindern und Jugendlichen vor?? Wie können wir von ihnen erwarten, dass sie dann einfach Konflikte lösen können? Dass sie andere nicht ausgrenzen, sondern tolerant sind? Wie können wir etwas verändern, wenn wir nur gegeneinander schimpfen oder sogar hetzen?"
Wie?
Ich weiß es nicht, außer - ich für mich persönlich - dass ich dran bleibe, die Gewaltfreie Kommunikation in die Welt zu tragen - gemeinsam mit vielen anderen Trainern. Das ist das was ich (beitragen) kann, um Menschlichkeit und Toleranz sowie Akzeptanz zu fördern, damit die Welt Schritt für Schritt friedlicher wird. Wobei sich die Schritte im Moment häufiger wie kleine Mäuseschrittchen anfühlen, wenn ich ehrlich bin.
Lasst uns gemeinsam für unsere Zukunft zusammenstehen.
Ich hoffe, dass ich dich mit meinen Worten anregen und inspirieren konnte.
Wenn dich etwas im Text aufgeregt oder getriggert hat, lass es mich wissen. Ich mag Austausch und im Gespräch sein und ich mag gerne so verstanden werden, wie ich es meine. Was mir manchmal bei dem ein oder anderen vielleicht nicht gelingt.
Schreib mir gerne an: gfkfeeling@web.de
Herzliche Grüße
Silvia
"Frieden erfordert etwas weitaus Schwierigeres als Rache oder das bloße Hinhalten der anderen Wange. Er erfordert die Einfühlung mit den Ängsten und unerfüllten Bedürfnissen,
die bei den Menschen für den Impuls sorgen, einander anzugreifen."
Marshall B. Rosenberg
